Die grösste Bedrohung für unsere Privatsphäre sind wir selbst
Spätestens seit den Enthüllungen von Edward Snowden und dem Heartbleed-Bug muss uns allen klar sein, dass unsere Daten nicht so vertraulich sind, wie wir das gerne hätten. Diese schlagzeilenträchtigen Skandale führen aber leicht zu falschen Schlüssen: Es ist nicht allein die Schuld von Geheimdiensten und Hackern, dass unsere Privatsphäre dermassen durchlässig geworden ist. Auch wir selbst leisten einen wesentlichen Beitrag dazu.
Ein wesentliches Element ist unser Mitteilungsbedürfnis. Das World Wide Web hat es ermöglicht, dass wir uns der ganzen Welt präsentieren, und dank Social Media ist die Selbstdarstellung zum Massenphänomen geworden. Wir dokumentieren unser ganzes Leben auf Facebook und blenden aus, was wir damit alles offenlegen. Das einzige, was wir fürchten, sind unvorteilhafte Schnappschüsse von feuchtfröhlichen Partys, die Kollegen ungefragt ins Netz stellen. Dabei sollten wir uns viel mehr Sorgen darüber machen, was wir über unser Konsumverhalten, unsere Aufenthaltsorte, unsere Meinung zu politischen und sozialen Fragen, unseren Gesundheitszustand oder unser Beziehungsnetz preisgeben.
Hinzu kommt, dass wir als durchschnittliche Anwender längst nicht mehr verstehen, wer denn nun unsere Posts sehen kann und wer nicht: Die Privatsphären-Einstellungen von Social-Media-Plattformen (Beispiel Facebook) überfordern die meisten von uns, auch weil sie sich ständig weiterentwickeln. So leben wir in der naiven Vorstellung, dass wir uns ja nur mit ein paar Freunden austauschen – und wundern uns dann, wenn eine unpassende Bemerkung viel grössere Kreise zieht als gedacht.
Eine grosse Gefahr liegt auch darin, dass Grossunternehmen Daten aus verschiedensten Diensten aggregieren können. Google bietet sich hier als Beispiel an (auch wenn es längst nicht nur um Google geht). Wer ein Google-Konto besitzt, die Google-Suche, Gmail, YouTube, Google Docs, Google Maps und den Play Store benutzt, liefert dem Konzern einen umfassenden Einblick in sein Leben – wiederum freiwillig, weil die Dienste halt ungemein praktisch sind und nur mit Daten richtig funktionieren. Da kann man bloss hoffen, dass das Firmenmotto «Don’t be evil» ernst gemeint ist und die Daten lediglich für personalisierte Werbung genutzt werden.
Ein weiterer Sargnagel für die Privatsphäre ist unser Wunsch, verschiedene Geräte zu nutzen und doch überall auf alle unsere Daten zugreifen zu können. Die technische Konsequenz daraus ist die Verlagerung dieser Daten von der Festplatte in die Cloud. Dass wirklich nur wir unsere Daten nutzen, ist ein Versprechen der jeweiligen Anbieter, dem wir blind vertrauen müssen, denn nachprüfen können wir es nicht. Und eigentlich gibt es genügend Indizien, die unser Vertrauen erschüttern sollten: Geheimdienste haben direkten Zugriff auf die Systeme von grossen IT-Unternehmen; SSL-Verbindungen sind über Jahre nicht wirklich sicher; bei Einbrüchen auf Servern werden Millionen von Passwörtern gestohlen. Warum sollten ausgerechnet unsere eigenen Daten trotzdem privat sein?
Drei weitere Stichworte: Quantified Self, Smart Home und Internet of Things. Diesen drei Trends ist gemeinsam, dass sie zusätzliche Geräte in unser Leben bringen, die autonom Daten sammeln. Das Fitnessarmband (Beispiel Jawbone) misst unsere sportlichen Aktivitäten und unseren Schlaf, die Sensoren in der guten Stube (Beispiel Nest Thermostat) registrieren Temperatur und Bewegungen, das Auto (Beispiel Automatic) zeichnet Geo- und Betriebsdaten auf. Und alle diese Daten wandern irgendwann auf die Server von Unternehmen, deren Dienste wir nutzen.
Wohlverstanden: Wir reden noch immer von der freiwilligen Preisgabe von Daten. Wir reden noch nicht von Überwachung und Spionage, die natürlich dank der technologischen Entwicklung ebenfalls viel einfacher geworden ist. Automatische Gesichtserkennung (wie wir sie von Facebook, Google Picasa oder Apple iPhoto kennen) kann in kürzester Zeit tausende von Fotos auswerten. Mini-Drohnen mit Digitalkameras erlauben die Erkundung von abgesperrtem Gelände. Webcams (Beispiel Dropcam) überwachen jeden beliebigen Raum rund um die Uhr. Und hegt man Zweifel an der Treue seines Lebenspartners, so kann man ihn mit über sein präpariertes Smartphone (Beispiel StealthGenie) besser ausspionieren als jeder Privatdetektiv. (Update: StealthGenie ist inzwischen nicht mehr erhältlich; der CEO der Herstellerfirma Invocode wurde im September 2014 vom FBI verhaftet.)
Viele Menschen sehen derzeit in Google Glass eine fundamentale Bedrohung ihrer Privatsphäre. Einige Aktivisten gehen sogar so weit, den wenigen Google-Glass-Trägern ihre Datenbrille von der Nase zu klauen. Das Google-Gadget eignet sich hervorragend als Feindbild, aber der Protest dagegen ist reichlich naiv. Die Überwachungsfunktionen, die Google Glass bietet, haben unsere Smartphones längst eingebaut.
Es lohnt sich, wieder einmal George Orwell zu lesen: Der Verlust der Privatsphäre, den er in seiner Negativ-Utopie «1984» beschrieb, ist heute weitgehend Realität, auch in freiheitlichen Staaten und Gesellschaften. Das futuristische Überwachungsinstrument, das bei Orwell Telescreen hiess, besitzt im Kern exakt dieselben Eigenschaften wie unsere Computer, Smartphones und Smart TVs: Es verbreitet einerseits Inhalte, sammelt aber zugleich Informationen über seine Benutzer und verbindet so das Angenehme mit dem Unangenehmen. Der Telescreen ist Realität – und wahrscheinlich benutzen Sie ihn genau in diesem Moment, in dem Sie diesen Artikel lesen…
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