Zum 10. Geburtstag: Wikipedia, der Albtraum der Werber
Die Wikipedia ist eine Realität gewordene Utopie – wenn man Wissenschafter, Journalist, Demokrat oder Humanist ist. Die Wikipedia ist ein Albtraum – wenn man Werber ist. Warum?
Werber suchen Reichweite. Die Wikipedia hat eine unglaubliche Reichweite: Sie gehört zu den am häufigsten besuchten Websites im Internet, und sie belegt Spitzenplätze in den Trefferlisten von Googles Suchmaschine. Wenn die Wikipedia ein kommerzielles Projekt wäre, könnte sie ihre Werbeplätze für teures Geld verkaufen. Ist sie aber nicht, die Finanzierung läuft ausschliesslich über Spenden, und so gibt es auch keine Werbeplätze. Das muss jeden Werber in den Wahnsinn treiben: Ein idealer Werbeträger, der keine Werbung publizieren will!
Auch Agenturen, die in der Wikipedia PR für ihre Kunden betreiben wollen, erleben ihr blaues Wunder. Denn es darf zwar jeder in die Wikipedia schreiben, aber nicht irgendwas. In den letzten zehn Jahren haben die Wikipedianer umfassende Richtlinien erarbeitet, damit die Online-Enzyklopädie nicht zum Tummelplatz für Medienstellen, Politaktivisten, Weltverbesserer, Verschwörungstheoretiker, Fälscher, Lobbyisten und Werber verkommt. Und was gegen diese Richtlinien verstösst, wird von der Community in aller Regel schnell und erbarmungslos eliminiert.
Bis man diese Richtlinien vollständig beherrscht, braucht es viel Zeit und Praxis. Es gibt aber einige elementare Grundsätze, die man ganz leicht versteht, und genau diese Grundsätze sind es, welche Werbung und PR in der Wikipedia verunmöglichen: Jede Information in der Wikipedia muss relevant, neutral und nachprüfbar sein.
Ihr Waschmittel hat jetzt eine neue Formel und wäscht weisser als alle anderen? Schön für Sie, aber chancenlos in der Wikipedia! Ihre 3-Mann-Bude ist nach Ihrem Verständnis der weltweit führender Anbieter für linksdrehende 5-Schlitz-Schrauben? Das dürfen Sie gerne auf Ihre eigene Website schreiben, aber in die Wikipedia werden sie es damit nicht schaffen. Sie haben einen begabten Dichter entdeckt, der allerdings noch nichts publiziert hat und etwas Publicity gebrauchen könnte? Da kann ihm leider auch die Wikipedia nicht helfen. Sie haben eine bahnbrechende Theorie entwickelt, deren Bedeutung aber noch niemand ausser Ihnen verstanden hat? Schreiben Sie ein Buch statt Ihre Zeit damit zu verschwenden, die Wikipedianer überzeugen zu wollen. Sie planen ein Event und möchten frühzeitig in der Wikipedia drauf hinweisen? Jedes andere Medium nimmt Ihren Hinweis gerne entgegen, nicht aber die Wikipedia.
Werbung soll ein Produkt oder eine Dienstleistung als einzigartig und überlegen präsentieren. Sie streicht die positiven Aspekte heraus und versucht die negativen Aspekte umzudeuten. Sie appelliert an Emotionen, legt Fakten zu ihren Gunsten aus und bleibt Beweise schuldig. Werbung steht per Definition im Widerspruch zu den Wikipedia-Grundsätzen und hat deshalb dort keine Chance. Schon mit ein paar Adjektiven zuviel überschreitet man die Grenze zur unerwünschten PR: Wer in der Wikipedia erfolgreich sein will, verkneift sich deshalb Wörter wie «führend», «innovativ», «hochwertig» oder «bevorzugt» und überzeugt allein durch relevante, belegte Fakten.
Noch einen weiteren Grund gibt es, warum die Wikipedia zum Albtraum für professionelle Kommunikatoren werden kann: Wenn nämlich Werber allzu dick auftragen oder Mediensprecher wider besseres Wissen kommunizieren, dann riskieren sie, dass man ihnen dies in der Wikipedia nachweist. Im Zeitalter von Social Media gibt es kein Informationsmonopol der Massenmedien mehr, und begründete Kritik wird immer ihren Weg in die Wikipedia finden.
Die Wikipedia: ein kleiner Albtraum für Werber, aber ein grosser Schritt für die Informationsfreiheit. Nicht umsonst erhält Wikipedia-Gründer Jimmy Wales am 26. Januar 2011 den Gottlieb Duttweiler Preis 2011 überreicht. Congrats, Jimmy – und Happy Birthday, Wikipedia!
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